Verfassungswidrigkeit Regelsätze - S 55 AS 9238/12 - SG Berlin, Beschluss vom 25.04.2012
Zumindest bei den Landessozialgerichten herrschte in letzter Zeit Einigkeit darüber, dass die 2011 neu eingeführten Regelleistungen für ALG II Bezieher verfassungsgemäß sind. So entschied das LSG Berlin-Brandenburg am 29.02.2012, das LSG Baden-Württemberg am 26.10.2011 und das LSG Bayern am 10.08.2011 dass an der Verfassungsmäßigkeit der Neuregelungen keine Zweifel bestehen. Während die 18. Kammer des SG Berlin noch Ende März 2012 keine Bedenken hatte eine Klage gegen die neuen Regelsätze abzuweisen, hat das die 55. Kammer des SG Berlin nun die Frage, ob und inwieweit die neuen Regelsätze gegen unsere Verfassung verstoßen, dem Bundesverfassungsgericht vorgelegt.
In der nun veröffentlichten Entscheidung ist nachzulesen, dass das Gericht davon ausgeht dass die maßgeblichen Normen für die Bestimmung des Regelbedarfs gegen Art. 1 Abs.1 GG (Menschenwürdegarantie) und Art. 20 Abs.1 GG (Sozialstaatsprinzip) verstoßen, zumindest soweit es die Regelsätze für zusammenlebende Ehegatten und Jugendliche bis zum vollendeten 18. Lebensjahr betrifft. Die Vorwürfe des Gerichts sind vielfältig: Das Gericht bemängelt, dass die Referenzgruppe, welche stellvertretend für die Bestimmung der Regelsätze steht, willkürlich bestimmt worden ist. Problematisch ist vor allem dass in die Vergleichsgruppe Aufstocker und Studenten einbezogen wurden. Problematisch sei weiterhin, dass der Ausschluss bestimmter Waren und Dienstleistungen aus dem Regelsatz nicht hinreichend begründet wurde. Insbesondere die Pflege der zwischenmenschlichen Beziehungen sei unzureichend berücksichtig worden. Wie es mit den Regelsätzen möglich sein soll Ansparungen für längerlebige Haushaltsgegenstände vorzunehmen sei nicht nachvollziehbar.
Zudem sei die Ausgliederung der Teilhabeleistungen aus den Regelleistungen unzulässig. Das Ausmaß der Fehler sei so groß dass dies zur Verfassungswidrigkeit führe. Alleinstehenden Leistungsbeziehern stehe ein Mehr von ca. 36 €/Monat und einer Bedarfsgemeinschaft bis zu 100 € pro Monat zu.
Meines Erachtens eine sehr interessante und möglicherweise weitreichende Entscheidung. Das SG Berlin ist das erste Gericht Deutschlands dass sich zu dem Urteil Verfassungswidrigkeit der Regelsätze durchringen konnte. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darf mit Spannung erwartet werden.
Update 12.07.2012: Am 12. Juli hat sich auch das Bundessozialgericht mit der Verfassungsmäßigkeit der Regelsätze befasst. In zwei Verfahren (B 14 AS 153/11 R und B 14 AS 189/11 R) hat das BSG entschieden, dass "die Höhe des Regelbedarfs für Alleinstehende nicht vom Gesetzgeber in verfassungswidriger Weise zu niedrig festgesetzt worden ist".